Tartu, Bodø, Bad Ischl – Europas Kulturhauptstädte legen los

von Carsten Heintzsch

Bad Ischl, Austria © Photo: Alin Andersen via Unsplash

Was bildet unser Europa am besten ab? Sind es die Großstädte mit ihren Millionen von Menschen, ihren unzähligen Strukturen, ihrer Vielfältigkeit, ihrem Volumen, ihrem Wachstum und ihrem Riesen-Angebot auf allen Ebenen? Oder sind es die kleineren Städte und Gemeinden, die alles, was uns und unser Leben ausmacht durch ihre begrenzte Größe schneller klarer, deutlicher und sichtbarer macht. Wie ein Kondensat. Wie ein schneller fassbares Modell unserer gesellschaftlichen Gegenwart.

Als die Idee der Europäischen Kulturhauptstädte 1985 ins Leben gerufen wurde, war der griechischen Kulturministerin und früheren Leinwand-Ikone Merlina Mercouri als Initiatorin der Idee eines wichtig: Alle europäischen Städte dürfen sich bewerben. Nicht nur die großen Metropolen. In den vergangenen 40 Jahren haben die Ergebnisse ihr recht gegeben: Gerade die kleineren Gewinner-Städte haben uns das ganze Europa nahegebracht.

Jetzt, in 2024, tritt ein besonderes Novum ein – gleich drei kleinere europäische Städte sind das Gewinnertrio: Tartu, Bodø und Bad Ischl. Was die drei vorhaben, wie ihr Programm und ihre Botschaft aussehen, warum gerade diese kleineren Städte das Zeug zu großen Überraschungen haben und was das über Europa und unser zukünftiges Leben aussagt, jetzt in Avvy.

Haben Sie am 17. Mai 2024 etwas vor? Küssen Sie gern? Glauben Sie auch das Küssen ein wesentlicher Bestandteil von dem ist was uns ausmacht? Der Anfang von allem. Wichtigstes Element unserer europäischen Kultur? Dann kommen sie nach Tartu. In Estland. Eingequetscht zwischen Lettland, Russland und Finnland zeigt die quirlige, hellwache und kluge Stadt dann schon seit dem 20. Januar, warum man sie zur Europäischen Kulturhauptstadt 2024 gewählt hat. Am 17. Mai ist es im kältesten Teil Europas schon wieder etwas wärmer. Und exakt an diesem Tag zeigt Tartu was Küssen kann, wie Tartu küssen kann, Europa erst recht und was das für uns Europäer zu bedeuten hat. Die größte Kuss-Kette der Welt ist nur ein Teil des Programms – Vorträge, Symposien, Podiums-Diskussionen, Street-Debates zum Thema Küssen umrahmen das alles. Es geht hier um die Wichtigkeit der Sexualität. Für unsere Gesundheit. Für unsere Kommunikation. Unsere politischen Entscheidungen. Unsere persönlichen Entscheidungen. Der Kuss-Gipfel mit allen Küssenden wird europaweit im TV übertragen – falls Sie nicht da sein können.

Noch ist alles ruhig – noch. ©Credit: Tim Bird

Ansonsten: Hin! Vielleicht schon am 10. Mai, denn da rollen die mobilen Saunen von Tartu durch die Stadt. „Naked Truth“ ist dann am Start, das Sauna Debatten-Festival. Mit dem Jahrhunderte alten Wissen, das Menschen nackt – und vor allem nackt in Saunen – am Ehrlichsten und Offensten sind. Und das schon Führer von verfeindeten Nord-Stämmen vor 1500 Jahren in Saunen den Frieden verhandelt und geschlossen haben. Auge in Auge. Nackt. Pur. Sichtbar ohne Waffen.

Überall in der Stadt eröffnen Sauna-Debattier-Clubs in Form der fahrenden Holztonnen. Mit genau vorgegebenen Themen, mit Diskussionsleitung mit Ergebnissen und gemeinsamen Statements zu den diskutierten Themen rund um das Leben und Zusammenleben in Europa. Tartu! Küssen und ein Volks-Sauna-Parlament, das konzentriert entspannt Themen ausschwitzt.

Bürgermeister Urmas Klaas, Vize Magnus Tsahanka & Jak Madison sind bereit. © Credit: Tartu/f

Und beide Programmpunkte betten sich ein in einen 1000fachen Themen-Teppich. Von Growing With Your Food, der Flower Battle, der Tartu Poetry Street bis hin zur Tartu World University, folgt alles immer ein und demselben Leitgedanken, der in der Ankündigung zum Grand Opening klar formuliert ist: „Tartu und Südestland präsentieren die Geschichte der Überlebenskunst – das Wissen, die Fähigkeiten und die Werte, die uns helfen werden, in Zukunft ein gutes Leben zu führen. Als Gemeinschaft wollen wir diese Informationen weitergeben und gleichzeitig von anderen lernen.

Die Europäische Kulturhauptstadt Tartu 2024 ist einerseits ein großes kulturelles Fest, das Besucher aus Estland und dem Ausland anzieht, und andererseits unsere Chance so viele Menschen wie möglich in die Schaffung der Grundlagen für einen langfristigen Wandel in Tartu und Südestland einzubeziehen.“ In ihren vier Clustern „Tatu with Earth“, „Tatu with Humanity“, „Tatu with Europe“, „Tatu with Universe“ bieten die Estländer ein buntes, wildes, schonungs- und grenzenloses Feuerwerk, das einem bereits jetzt nichts anderes übrig läßt, als sich in diese Menschen da oben im Nordosten Europas schon mal ein bisschen zu verknallen. Tartu will begeistern und lehren, gleichzeitig aber auch selber lernen von allen die kommen. Für sich und für Estland.

Und genauso ist das Programm ausgerichtet. Es sendet wunderschönste Impulse und Botschaften. Und es empfängt – mit immer wieder speziellen Parts, die für die Besucher aus dem Inland und der ganzen Welt Räume aufmachen, um ihr Wissen, ihre Überzeugungen, ihren Spirit zu hinterlassen. Nach Tartu kommen heißt also ganz viel bekommen und ganz viel geben. Tartu will und wird zeigen, warum Austausch unter uns Europäern für unsere beste Zukunft lebenswichtig ist.

Bodø, die Europäische Kulturhauptstadt aus Norwegen, noch viel nördlicher als Tartu – ehrlich gesagt kommt danach recht bald der Nordpol – hat auch ein Feuerwerk zu bieten. Es ist allerdings auf eine einzige Sache ausgerichtet: die Natur. Bodø hat sich einen hohen Anspruch auf seine Fahne geschrieben: die nachhaltigste Stadt in der Geschichte der europäischen Kulturhauptstädte zu sein. Und deswegen wir man als Besucher von Kulturhauptstadt Bodø vor allem eines sein: Draußen! In der Natur.

Bodø: Tauwetter erst ab März – aber das Programm wird einheizen. © Credit: Marie Peyre

Zusammen mit der weitläufigen Region Nordland wird Bodø seine atemberaubende, unberührte arktische Natur und fesselnde Kultur präsentieren. Der Clou: Das exakt 1.000 Veranstaltungen umfassende Programm wird inhaltlich und organisatorisch immer dem Licht im Laufe des Jahres folgen. Von den mehrschattigen dunklen Tagen im Start-Monat Januar über das Nordlicht bis hin zur Mitternachtssonne im Sommer.

Februar, Winter, Kälte? Egal: Auch die Eröffnungsfeier am 3.2. wird draußen stattfinden. Auf einer schwimmenden Bühne im Yachthafen mit einer spektakulären Show die aber auch gleich zum Leitthema kommt und sich rund um die Beziehung zur Fischerei, zur Umwelt und zum Klima drehen wird. Und weil Konzentration auf die Natur auch eine Reise zurück zu den eigenen Wurzeln ist, zu Zeiten, als wir noch direkt in der Natur lebten, stehen in Bodø 2024 die Ureinwohner Nord-Norwegens im Fokus: die Sámi, die indigene Bevölkerung der Region.

Das Bodø City Museum wird für ein Jahr komplett zum Sámi-Museum. Und das innovative Hybridprojekt ÁRRAN 360° führt Jahrtausende alte indigene Erzählungen behutsam in ein neues digitales Reich, mit Panoramafilmen, die in einem speziell gebauten riesigen Wigwam gezeigt werden. Will man das „Konzert in der versunkenen Höhle“ erleben, muss man akkreditierter Taucher sein! Man taucht hinab und in der 15 Meter tiefen Höhle wieder auf und wird dort von wundervollen Auftritten empfangen. Keinen Tauchschein? Keine Angst: Es gibt auch einen Livestream.

Durchtauchen zum Konzertsaal 25 Meter unter dem Meer. © Credit: Nordland Turselskap

Oder wollen Sie den größten Schneemann der Welt bauen? Zusammen mit tausenden Besuchern und Einheimischen beim Mega-Happening „As Long We Have Snow!“, oder Sting in seinem Open Air Gipfel-Konzert erleben oder beim Pro’s & Amateurs „Arctic Race“ auf einem mit Spikes-Reifen ausgerüstetem  Fahrrad alle Schneehöhen erradeln?

Bodø nimmt einen ran! Und wird uns ein Jahr lang in immer neuen Programm-Punkten mit der Natur und ihren Bedürfnissen, Botschaften und Forderungen in Atem halten. Motto: Wir haben die Natur nicht geschont, warum sollte sie uns schonen? Wir sind ein Teil von ihr und es ist jetzt an der Zeit das endgültig klug zu leben. Und in seiner Konsequenz macht Bodø noch etwas: für zwei Drittel aller Programmpunkte stehen Bürger jeden Alters und jeweils punktgenauen Qualifikationen bereit – vom lokalen Bäcker bis hin zum berühmten Naturforscher – um großartige Auskünfte zu geben, zu diskutieren, zu ergänzen oder einfach nur um zu ermutigen.

Bad Ischl will auch ermutigen. Und möglich ist in der Main-City des Salzkammerguts alles. Seit Jahrhunderten. Denn alle, aus allen Ländern Europas und der Welt pilgern nach Bad Ischl. Wegen der Heilquellen. Auch der Kaiser. Wegen dem dann die Sissi kam. Und wegen ihr danach der ganze Planet. Aber das war auch das Image-Korsett in dem Bad Ischl die letzten 240 Jahre eingeschnürt war. Heilung und Huldigung umrahmt von traumhaften Bergen und Bächen. Dieses Korsett hat Bad Ischl 2019 gesprengt. Und hat diese Sprengung akribisch, bienenfleißig und in völliger innerer Befreiung vorbereit. Mit einem genialen Schachzug und einer nie für möglich gehaltenen Reaktion.

Der erste Teil des Schachzuges war das Bewerbungs-Thema. Bad Ischl hätte sich als schönste, strahlendste und mit Attraktionen über alle Maßen gesegnete Salzkammergut-Stadt bewerben können. Das verhältnismäßig kleine Städtchen mit seinen knapp 14.000 Einwohnern wurde aber nur zugelassen, wenn es sich zusammen mit den gesamten 23 Nachbar-Städten und Gemeinden als „Bad Ischl + Salzkammergut“ präsentiert – das ganze Salzkammergut als eine Stadt. Eine kreative Statuten-Neuerung des „Europäischen Rats“ – dem Kulturhauptstadt Entscheider-Gremiums der EU – die es jetzt auch sehr kleinen Städten möglich macht, beim Wettbewerb dabeizusein.

Also war Bad Ischl so klug und stellte die Region als Leit-Stadt nicht mit einem ihrer Superlative vor, sondern mit dem, was alle eint: Salz!

Nicht Tourismus, Berge, Seen und Wälder verbinden alle Gemeinden und Städte in der Region. Sondern Salz!

Die unermesslichen Salzvorkommen und der Handel damit haben die Region jahrhundertelang ernährt, bereichert und international vernetzt. Es hat Vermögende und Mächtige ins Land gezogen, die dann beim Geschäfte machen dem Zauber der Region verfallen und fortan auch als Touristen immer wieder gekommen sind. Das Salzkammergut ist so zu einem Sehnsuchtsort geworden, und die historische Kulturlandschaft im inneren Salzkammergut ist heute Teil des UNESCO-Weltkulturerbes.

Die Idee: dieses gemeinsame weiße Gold, wie es einst genannt wurde, in ein Jetzt und ein Morgen zu übertragen. Das Credo der Bewerbung lautete deshalb: „Aus dem Salz entstanden, durch das Salz reich geworden und mit dem Salz geht es in die Zukunft: ‚Kultur ist das neue Salz‘“ Mit einem prallvollen Programm das immer wieder die Kraft des gemeinsamen Bodenschatzes spüren läßt. Ob „5 Tage Salz-Bauer sein“, dem Konzert der weltberühmten Wiener Philharmoniker im Salzbergwerk oder „Bergvolk reloaded“ und zig weiteren – das Füllhorn ist prallvoll. Damit hatte Ines Schiller, Bürgermeisterin von Bad Ischl, die Munition, die sie brauchte. Sie, die kluge Architektin der erfolgreichen Bewerbung, stand nämlich Anfang 2015 noch vor einem Scherbenhaufen. Alle 23 Gemeinden waren aufgrund unterschiedlichster Animositäten miteinander zerstritten. Fehden, die teilweise seit über 200 Jahren schwelten.

Nur in einem waren sich die 22 Nachbar-Gemeinden immer einig: Eifersüchtig sein auf Superstar Bad Ischl. Das war die Lage. Ines Schiller rief alle 22 Bürgermeister zusammen, präsentierte das Leitthema, legte einen Plan für die möglichen Rollen jeder einzelnen Gemeinde vor, zeigte Riesen-Räume auf, in denen jeder seine Rolle nochmal neu und eigenständig creativ definieren konnte. War charmant und – da neu im Amt – auch unbelastet, führte Einzelgespräche, schlichtete aktuelle und alte Fehden, führte zusammen, einte das Salzkammergut, einte die Bürgermeister! Und machte diese Einung im gleichen Moment mit einer Verfügung zur Richtlinie: Jegliche Entscheidungen in Bezug auf die Bewerbung und das Programm können nur getroffen werden, wenn alle Bürgermeister dafür immer geschlossen mit ja stimmen. Und sie hat es hinbekommen!

Ines Schiller und ihre Bürgermeister-Truppe im Sommer 2023. © Credit: Bad Ischl/T.

Als die EU im April 2019 verkündete, das Bad Ischl + Salzkammergut Europäische Kulturhauptstadt 2024 werden, fielen sich die 23 Bürgermeister im Trinkhallen-Saal von Bad Ischl wild in die Arme und jubelten wie eine Fußballmannschaft. Mit einem Schlachtruf: „Mit unserer gewachsenen Kompaktheit, abgeschirmt durch Berge, Seen und Flüsse stehen wir exemplarisch für viele andere Weltregionen und dienen gleichermaßen als Paradebeispiel wie auch als Labor, um den zunehmenden politischen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen Europas und der Welt begegnen zu können.“

Fahren Sie hin! Fahren Sie ins Salzkammergut, fahren Sie nach Bodø, fahren Sie nach Tartu!

Related Content