Das war ein Schock! Du möchtest Dein gutes altes Venedig besuchen, und dort verlangen sie an den Stadtgrenzen 5 Euro. Dabei kommst Du doch jedes Jahr im April hierher. So viele Jahre schon. Du fühltest Dich schon als Teil der Stadt. Du fühltest dich sogar als Venezianer. Und nun sagt Venedig nein, Du bist es nicht. Du bist ein Fremder, ein Tourist, ein Nutzer unserer Stadt, Du trampelst mit Deinen unersättlichen Forscherfüßen durch sie, trägst zu ihrem Verfall bei, überrollst uns und dafür musst Du zahlen. Du zahlst doch auch, wenn Du ein Museum betrittst, oder? Also beschwere dich nicht. Schließlich hast Du zusammen mit Deinen Millionen Mitbesuchern in den letzten 50 Jahren unsere Stadt in einen Vergnügungspark verwandelt. Und Du hältst inne, wirst nachdenklich, gibst widerwillig und heimlich zu, dass sie recht haben, und denkst: Warum gehe ich nicht mal woanders hin?
Warum betrachte ich nicht das gesamte Menü der Reise-, Erkundungs- und Bewunderungswelt? Warum schaue ich nicht nachts in den Himmel, sehe die Millionen Sterne, die mir zuzwinkern, und erkenne: So wie es Sterne am Himmel gibt, gibt es auch einzigartige Orte auf der Erde. Aber ich nehme den einfachen Weg und bestelle stoisch nur Schnitzel, Seezunge oder Entrecote mit Pommes vom Reisemenü. Ich gehe stur nach Venedig, zu seinen touristisch überlaufenen Kollegen Rom, Barcelona, Paris, Amsterdam & Co. Und ich mache mit, denn trotz meiner ehrlichen und aufrichtigen Liebe zu diesen fantastischen Städten bin ich leider auch einer von denen, die sie an den Rand der Erschöpfung bringen.

5:30 Uhr morgens: Der Markusplatz atmet durch – sie kommen gleich wieder! File: Die Prokuratien am Markusplatz, Venedig – © 2013 by Martin Furtschegger – licensed under CC BY 4.0
Wenn ich sie wirklich lieben würde, würde ich öfter fernbleiben und mein Reiseherz neu ausrichten. Ich würde die ganze Welt betrachten und allmählich erkennen, wenn auch zögernd, dass wir Reisenden Millionäre der Möglichkeiten sind! Die Erde, die Welt, mit ihrer scheinbar unendlichen Vielfalt, mit ihrem unerschöpflichen Angebot an außergewöhnlichen, erstaunlichen und immens bereichernden Dingen, hat mich, hat Dich zu diesem Supermillionär gemacht. Ich, als Bewohner der Erde, mit meiner Neugier und Entdeckerfreude, meinem Koffer, Rucksack, meiner Kreditkarte und meinem Google-Konto, sitze auf einem Schatz. Und ich kann ihn immer wieder neu entdecken. Und ich war an wirklich außergewöhnlichen Orten, war ein Schatz für diesen Ort und die Menschen dort. Ich war Columbus. Ich wurde mit offenen Armen und Freude empfangen. Zusammen mit den Menschen dort machte ich einen Anfang. Sie, die Bewohner, das erste Mal als Gastgeber, und ich, der erste Tourist. Absolute Anfänger. Und was auch immer dort herausragend war, die Berge, das Meer, die Häuser, sie freuten sich auch, weil sie von mir, dem Neuling, neu betrachtet und bewundert wurden. Weil ich von außen kam.

Leerer Traumplatz. Wo ist Deiner? Reiseblog von Lars © 2019 by Lars is licensed under Creative Commons Attribution 4.0 International
Diese Perlen warten auf uns. Die verborgenen Champions. Diese Diamanten auf der Weltkarte. Ungeschliffen und hungrig nach Aufmerksamkeit und Bewunderung. Und wenn sie entdeckt werden, gelten völlig neue Parameter. Es geht nicht mehr darum, welches Land, welchen Kontinent ich besuchen möchte. Es geht mehr darum, was ich mag. So eine schöne und wichtige Frage: Was mag ich? Was mögen Menschen? Wenn die Antwort das Meer, Schwimmen, Tauchen, Wärme, Kultur und Geschichte ist, dann ist das meine Navigationsaufgabe zu den Möglichkeiten meines Planeten. Und mit einem breiten Spektrum kann ich verstehen, dass es unzählige Wunder gibt, die auf mich warten, Wunder, die ich googeln und erfragen kann.
Und mit meiner Tauchermaske und meinen Flossen bin ich nicht auf den Malediven, sondern in einer kleinen Küstenstadt im nördlichen Maine, die 120 Einwohner hat und zu dieser Jahreszeit den warmen Golfstrom mit Hunderttausenden von Fischen. Oder ich befinde mich in den griechischen Kykladen auf einer Insel mit sehr wenigen Touristen und atme das Wesen dessen ein, was diese tausendfache Inselgruppe so außergewöhnlich macht. Oder ich sitze in einem Café in einem winzigen Dorf im Süden Chiles, noch in meinem triefend nassen Badeanzug, und möchte nie wieder weg. Und gleichzeitig verstehe ich:
Neue Orte sind wie neue Freunde. Und beim Reisen geht es darum, diese neuen Freunde zu finden. Orte, die zu Dir passen, die Dich erweitern, die Dir Zugang zu Deinem inneren Reichtum geben, um Dir ihren zu geben. Und mit diesem Indikator kannst Du unterwegs sein. Ziele anvisieren und zu neuen potenziellen Ziel-Freunden auf der Karte reisen. Wo möchtest du mit mir hin, Liebling? Nach, wie heißt es, John’O Groats? Im äußersten Norden Schottlands? Aber willst du nicht tauchen und warme Strände haben? Genau, Liebling, warte nur ab!

Wunderbares Baumhaus – Traumreiseort im eigenen Garten. File:Baumhaus Tragwerk mit Hilfe von speziellen Baumschrauben © 2021 by Vitus Wahlländer is licensed under Creative Commons Attribution 4.0 International
Und diese John’O Groats gibt es überall auf der Welt. Sie existieren, weil sie in uns existieren. Und diese Orte sind nicht außergewöhnlich, nicht herausragend, weil sie besondere Parameter von Luxus und Status bedienen, sondern weil sie die Vielfalt und das Außergewöhnliche in uns bedienen. Jeder ist so besonders. Und so wie es ein Meer von Menschen gibt, die diese Einzigartigkeit schätzen, die explizit unsere Einzigartigkeit schätzen und die wir alle so viel wie möglich treffen sollten, weil sie für uns gemacht sind, gibt es ein Meer von Orten da draußen, die uns begegnen möchten, die wir treffen sollten, weil sie die Vielfalt in uns nähren. Weil diese tausenden möglichen Orte uns komplett machen. Ein neues Reiseziel zu googeln ist wie eine Kontaktanzeige für unsere Seele aufzugeben. Wunderbar!
Aber jetzt muss ich meinen 5-Euro-Schein herauskramen und die Eintrittsgebühr für Venedig bezahlen. Oder vielleicht doch nicht? Und sagt mir das nicht, dass Rosolina, 30 km westlich, der kleine Cousin der Stadt der Gondeln, möglicherweise viel besser zu mir passt? Ich werde dort zur Abwechslung hinfahren!