Solange die Menschheit dem Leben auf den Grund geht – forscht, entdeckt, erkennt und begreift – zeigen sich wertvolle Wahrheiten fast immer in Kernen, in Spuren, in mikroskopisch kleinen Offenbarungen. Die kleinen Dinge sind es, die auf Großes zeigen und Großes begreifen lassen. Eine Tatsache in allen Wissenschaftsgebieten und ganz besonders eine Tatsache in dem größten Gebiet von allen: der Erforschung von uns selbst, der Erforschung von uns untereinander. Wenn Menschen sich kennenlernen, wird geschaut, gecheckt und gefühlt. Und wenn Menschen dann schon zig Jahre ein Paar sind oder seit ewig Freunde, wird immer noch geforscht – das Beobachten und Beurteilen hört nie auf. Und da in diesem unendlich vielfältigen Zwischenmenschlichen sind es selten die großen, aber immer wieder die kleinen Dinge, die einen bestätigen in Liebe und Freundschaft. Minimale Parts des Tages, die einschießen ins Herz und einen: „Ja!“, sagen lassen zu dem anderen. Als Freund, als Partner oder Kollegen. Das letzte Stück Torte auf einem Tellerchen im Kühlschrank, mit einem Post-it: „Deins! Dicker Kuss!“. Wie der Partner beim Lesen manchmal minimal die Lippen mit bewegt. Die WhatsApp zwei Minuten vor einem wichtigen Termin: „Viel Glück gleich!“ Tausend Dinge, alle klein und doch riesengroß, sind es. Habe ich den Blick darauf, habe ich den Schlüssel zum Glück. Dann sehe ich bei einer verspäteten, stressigen ICE-Fahrt aus dem Fenster einen kleinen Jungen, der am Straßenrand seinen riesigen Hund energisch ermahnt, Sitz zu machen; ein altes Paar, das Händchen hält; einen Schwarm Möwen im Sonnenlicht. Im selben Moment bin ich ein Sammler der kleinen Dinge und ihrer Botschaft für das große Glück.
Jule und Ben haben sich vor 3 Wochen kennengelernt. Es war Anziehung auf den ersten Blick. Es war Verlangen, Sehnsucht, Lachen, Vertrautheit und Leidenschaft in den letzten vielen Tagen. Der Moment aber, als Liebe daraus wurde bei ihm, als er wusste, das ist die Frau meines Lebens, war, als er auf seiner Mega-Hifi-Anlage ziemlich, ziemlich laut einen seiner absoluten Lieblings-Songs spielte. Und sie trat plötzlich an die Anlage und drehte den Lautstärkeregler noch mal ein Stück lauter. Das hat ihn umgehauen. Das war das Enzym, das sein Herz vollmachte. Wie ein Kleinstteilchen in der Lupe des Archäologen, das Gewissheit für eine ganze römische Siedlung gibt. Und davon, diesen Mini-Hinweisen, die Teile eines großen Phänomens sind, gibt es beim anderen ganz viele. Dass er beim Essen das Gemüse auf seinem Teller in Gruppen ordnet. Dass sie sich nach einem Kuss noch einmal kurz über die Lippen leckt, wie nach einem guten Essen. Dass ein Freund einem vor einer großen Reise eine SMS schickt: Vergiss Deinen Pass nicht.
Der Blick auf solches und seine Ausbeute ist unendlich. Und erstreckt sich auf alles in unserem Leben. Gerade bei den Riesenerlebnissen machen die kleinen Beobachtungen und Wahrnehmungen den ganzen Spaß aus. Wie ich beim Stadion-Konzert einer Mega-Band einen Roadie auf der Bühne dabei beobachte, wie er minutiös liebevoll das Mikrofon des Leadsängers justiert. Wie einer seiner Freundin nicht nur ihre Cola mitbringt von den Verkaufsständen, sondern auch noch einen Band-Schal vom Merchandising. Wie eine Amsel inmitten von 50.000 und ohrenbetäubend lauten Sound der Superstars unbeirrt auf einer Metallstange im Bühnen-Gerüst sitzt und zuschaut. Und vom Mega-Konzert geht es weiter. Am nächsten Morgen zum Bäcker. Ich kann in der Schlange stehen und genervt sein, wie die Frau da vorn Sachen will wie „Braunschweigern mit Mohn“, Paderborner Krapfen oder Sesambrötchen ohne Sesam. Ich kann aber auch das junge Paar sehen, das komplett nach Bett, gutem Sex und viel Spaß in der Nacht aussieht und hungrig verliebt auf die geschmierten Brote starrt. Oder den kleinen Hund in der Louis Vuitton Tasche der Dame vor mir in der Schlange, der mich anscheinend gerade anlächelt. Überall, zu jeder Situation, zu jedem Moment bietet das Leben uns etwas an. Hält es einen Moment bereit, der sagt: „Guck mal: Leben ist toll!“
Und ich kann diesen Moment nehmen oder nicht. Ich kann ihn sehen oder daran vorbeigehen. Ich kann reicher werden oder meinem Glückskontostand nichts hinzufügen. Es kommt ganz auf mich an. Und das ist oft der Punkt: Viele wünschen sich den Blick auf diese selig machenden Teilchen, aber sie bekommen ihn nicht. Der Stress, die Hetze ist leider immer Sieger. Oder die Befangenheit in Gedanken, in Planung und Dingen rund um den Partner, die Familie, den Job. Man ist bei Hamburg – Berlin mit dem Zug schon fast da und hat bis jetzt nicht einmal aus dem Fenster geschaut. Nur auf seinen blöden Laptop, seine Zeitung, sein Buch. Hat die Rehe im Morgentau nicht gesehen, den Hund, der von einem Schwein gejagt wurde, das Glitzern des Sonnenlichts in einem Bach. Kann man den Blick auf diese Perlen trainieren? Die Antwort ist sehr einfach: Ja! Das geht mit sogenannten Mikrokosmosübungen. Liegt man am Strand, schaut man nicht auf das Große, Ganze, nicht auf das Meer, die Badenden und Schönen, sondern auf ein maximal 20 mal 20 Zentimeter großes Teilen vom Strandsand neben seinem Handtuch. Und sieht erst nur Sand und dann nach einer Weile Wunder: Die unzähligen verschiedenen Farben der Körner, den Käfer, der sich einen Sandhügel hochastet, die Wellen des Sandes, das immer wieder Einrutschen der Hügel und Bildung von neuen Hügeln und Wellen. Ein kleiner Planet. 40 Zentimeter rechts von meiner Sonnencreme. Und dieses Training geht überall. Schaut man in einem Café nur einmal auf einen Eingang eines Geschäftes gegenüber. Was da passiert. Schon innerhalb von 10 Minuten. Ganze Geschichten passieren da. Erfolgreiche Filmemacher, Drehbuchautoren, Regisseure, sie alle haben den Blick für die kleinen Dinge des Lebens. Die Momente, die uns ausmachen. Sie machen damit ihre Filme echt, liebenswert und unvergesslich. Das fängt schon bei den Klassikern an: Ist bei »Ben Hur« das Wagenrennen die größte Szene des Films? Ja, vielleicht. Aber die Szene, die uns wirklich bewegt, ist der Moment, wenn der Soldat, der Ben Hur auf dem Galleeren-Marsch das Wasser verwehren will, von einem Seitenblick gestoppt wird, dem von Jesu. Wenn Meryl Streep in „Brücken am Fluss“ beim Telefonieren, ihrem Besucher Clint Eastwood für Sekunden mit der Hand durchs Haar streift. Wenn Ryan Gosling in „La La Land“ von seinem Piano hochschaut und Emma Stone quer durch den Jazz-Club fixiert.
War Sie das Lara? Kleines Herz, großer Anfang.
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Die kleinen Dinge. Sie sehen, Sie würdigen. Ihnen die Kraft zugestehen, die sie haben. Denn: Wir, und ganz besonders wir, sind auch aus kleinen Dingen gemacht. Wir bestehen nur aus Zellen. Mikroskopisch kleinen Zellen. Trilliarden. Und jede von Ihnen ein kleiner Planet. Rund. Voll mit genetischen Informationen. Voll mit lebenswichtigen Funktionen. Geniale Winzlinge, die uns das Leben überhaupt erst ermöglichen. Sie geben die Formel vor, dass das große Ganze aus den kleinen Wundern besteht. Und Leben heißt, diese kleinen Dinge zu sehen. Wer sie sieht, sieht sich selbst. Und ganz weit in das Leben hinein.