Andreas Tölke, 64, war 30 Jahre lang erfolgreich als Journalist im Bereich zeitgenössische Kunst, Architektur und Design tätig. Er hat internationale Stars wie Zaha Hadid und Jeff Koons über Jahre hinweg begleitet und interviewt, und seine Arbeiten wurden international veröffentlicht. Ich lernte ihn 2008 in Marrakesch kennen, als er einen Artikel für die „Elle Decoration“ schrieb. Seitdem sind wir befreundet.
2015 änderte er über Nacht sein Leben und nahm obdachlose Menschen, die vor dem Krieg geflohen waren, bei sich zu Hause auf. Seit neun Jahren engagiert er sich als Gründer des Vereins „Be an Angel“ aktiv dafür, Lösungen für Migration und Einwanderung in der Politik und Verwaltung zu adressieren. Sein Credo: Ökonomische und soziale Integration schaffen eine Win-Win-Situation. Ein wunderbares und erfolgreiches Projekt ist das Berliner Restaurant „Kreuzberger Himmel“, das er ausschließlich mit geflüchteten Menschen zusammen aufgebaut hat und betreibt.
Im März 2022, kurz nach dem flächendeckenden Angriffskrieg der Russen auf die Ukraine, siedelte Tölke erst nach Moldawien und dann in die Ukraine, nach Odessa, um. Zusammen mit seinem Team hat er über 23.000 Menschen aus Kriegsgebieten evakuiert und knapp 5000 Tonnen Hilfsgüter in die Ukraine gebracht.
„Be an Angel“ ist mittlerweile in Moldawien, der Ukraine und mit „Friends of Be an Angel“ auch in den USA registriert. Tölke begleitet quasi jede Evakuierung, um sicherzustellen, dass die Spendengelder dort ankommen, wo sie gebraucht werden, und um zu gewährleisten, dass das Team sich im Rahmen der Möglichkeiten keiner zu großen Gefahr aussetzt. Trotzdem sagt er selbst: „Zigmal sind Raketen und Drohnen nur ein paar hundert Meter entfernt eingeschlagen.“ Er riskiert sein Leben, um unschuldige Zivilisten zu retten. Dafür wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und erhielt die Ehrendoktorwürde der renommierten britischen Universität Arden.
© Be an Angel
AB: Lieber Andreas, deine Geschichte ist unglaublich beeindruckend. Du hast über Nacht dein Leben verändert und einen komplett neuen Weg eingeschlagen. Von Luxus, Mode, Design zu Flüchtlingscamps, Bürokratie und auch Angst. Wir waren damals alle geschockt und viele wollten und haben auch geholfen. Aber nach kurzer Zeit ist dieses Gefühl des „wir schaffen das“ doch ziemlich abgeebbt. Woran liegt das deiner Meinung nach?
AT: Wir definieren uns immer noch stark über das, was wir besitzen, um den alten Fromm zu zitieren. Viel zu wenig jedoch über unser Sein. Shoppen, Reisen, Restaurants – würde man den Menschen dies wegnehmen, wären sie wie Süchtige auf Entzug. Besonders die urbane Elite, die oft weiß, dass wir ökologisch unseren Planeten an die Wand fahren und dass die Gesellschaft zunehmend auseinanderdriftet, ist davon betroffen. Die Reaktion darauf ist häufig Verunsicherung und der Versuch, inneren Frieden zu finden – indem man sich von Yoga über Sojamilch bis hin zu Ayahuasca wieder irgendetwas kauft. Also versucht man von außen das Innere zu beruhigen – eine alte Struktur: konsumieren.
AB: Aber wie kann man in einer turbo-kapitalistischen Welt etwas finden, das wirklich erfüllt?
AT: Besonders in Deutschland, wo wir in totalem Wohlstand und Luxus leben, sind wir dennoch zutiefst verängstigt. Jeder hat Angst, etwas zu verlieren, verteidigt seinen Wohlstand und schottet sich ab. Wider besseren Wissens halten wir an alten Lösungen fest und schieben die Verantwortung gerne von uns weg. Die Bürokratie ist schuld, die Politik ist schuld, die Wirtschaft ist schuld – dass unsere Gesellschaft eine gemeinschaftliche Aufgabe ist, fällt den wenigsten auf.
Gerade in der urbanen Elite werden Themen wie Klimawandel und Migration intensiv diskutiert. Doch dass jeder Einzelne etwas verändern kann, ist nur wenigen bewusst. Dass genau diese Aufgabe zum Ersatz für Konsum, Reisen und oberflächliche Vergnügungen werden könnte – darauf kommen die wenigsten. Würde nur jede zweite Yogastunde durch soziale Aktivitäten ersetzt, würden die Menschen merken, dass sie a) etwas verändern können und b) ausgeglichener und glücklicher werden. Zusammengefasst: Inhalte statt Konsum.
© Kreuzberger Himmel
AB: Inhalte statt Konsum klingt super. Aber nicht jeder kann sein Leben so auf den Kopf stellen wie du. Was wäre dein Rat oder welche Ideen hast du, wie Menschen beginnen können, sich sinnvoll zu engagieren?
AT: Dieses grundsätzliche Gefühl von Existenzangst, das aus der Historie tief in Deutschland verhaftet ist, führt aktuell bei vielen zu extremem Egoismus und Abschottung. Abschottung führt zu einem verengten Blick, der wiederum zu verhärteten Positionen führt. Wer seine eigenen Positionen nicht mehr für die einzig unumstößliche Wahrheit hält, sondern sich immer wieder hinterfragt, jede Ideologie, jede scheinbar einfache Lösung unter die Lupe nimmt, gewinnt Freiheit.
Deutsche werden von anderen Kulturen als Besserwisser und „Ja, aber…“ wahrgenommen. So platt es klingt: Wir müssen uns alle mal ein bisschen locker machen. Empathie statt Härte. Empathie ist ein Muskel, der trainiert werden kann. Ehrenamt außerhalb der eigenen Komfortzone erweitert den Horizont. Elternbeirat reicht da nicht. Integrationsinitiativen, soziale Brennpunkt-Aktivitäten, Obdachlosenhilfen – geht dorthin, wo es euch weh tut, geht dorthin, wovor ihr Angst habt.
© Be an Angel