Ein persönlicher Bericht über Berlins pulsierende Tango-Szene, eine kulturelle Reise durch den Tanz und die Musik, seine Orte und wie Berlin zur europäischen Tango Hochbug wurde.
Es wird oft gesagt, dass Berlin nach Buenos Aires die zweitgrößte Tangogemeinde der Welt hat und dass es kaum eine Stadt außerhalb von Argentinien gibt, in der man so viele Tangotänzer und Veranstaltungen findet wie hier. Stimmt das überhaupt, und wenn ja, stellt sich die Frage, wie der Tango nach Berlin kam?
Tango entstand Ende des 19. Jahrhunderts in Buenos Aires und Montevideo als Tanz der armen Leute, der zunächst auf der Straße begann. Das wichtigste Instrument, das melancholisch klingende Bandoneon, ist untrennbar mit dem argentinischen Tango verbunden. Kaum zu glauben, aber seine Wurzeln liegen im Erzgebirge in Deutschland, wo vor 150 Jahren und noch immer die Instrumente gefertigt werden. Ohne sie gäbe es keinen argentinischen Tango. Doch das allein reicht nicht aus, um die Brücke nach Deutschland zu schlagen. Anfang des 20. Jahrhunderts kamen argentinische Musiker nach Paris, um ihre Platten aufzunehmen, und so kam der Tango zuerst nach Paris und danach nach Berlin, wo 1913 im Admiralspalast das erste Tangoturnier stattfand.
Tango am Reichstag © 2022 by abbilder is licensed under CC BY 4.0
Für Tangotänzer ist der Sommer immer ein besonderer Höhepunkt. Tango findet im Halbdunkel statt, abends, wenn sich die Stadt von der Hitze erholt. An vielen Orten der Stadt trifft man sich unter freiem Himmel. An einem Wochenende im Berliner Sommer finden mindestens 40 Open-Air-Milongas (der Name für die sozialen Tanzveranstaltungen) statt, insgesamt über 500 in ganz Deutschland, Festivals nicht mitgezählt. Dazu kommen zahlreiche Indoor-Locations, die vielen Tangoschulen und unzählige kleinere Proberäume, verteilt in der Stadt, für die sogenannten Practicas, bei denen man übt. Für all diese Termine gibt es eine Tango-App.
Nachdem der Tango wegen des Ansteckungsrisikos beim Engtanz während Corona fast verschwand, schwappte in den beiden Sommern danach eine regelrechte Tangowelle über die Stadt und riss mich mit.
Ich war die letzten Jahre auf der Suche nach etwas Neuem, das mich neben Alltag und Arbeit begeistern könnte. Vor allem aber wollte ich endlich wieder tanzen. Für ausschweifende Ausflüge in die Berliner Clubszene fühlte ich mich als etwas zu alt, selbst für einen Sonntagabend im Berghain. Um ehrlich zu sein, wollte ich mich auch ein Stück weit von den dystopischen Nachrichten des Weltgeschehens ablenken und mich in einer anderen Welt verlieren. Wenn die Titanic sinkt, dachte ich mir, spielt die Musik bis zum Schluss – und ich könnte dazu tanzen. Irgendwie ein tröstliches Bild.
Im Frühjahr erzählte mir eine neue Bekannte, die als Flugbegleiterin schon alle Teile der Welt bereiste, dass Tango eine Art „universelle Sprache“ sei, und dass sie, egal wohin sie fliegt, ihre Tangoschuhe immer dabeihat. Da es Tango und Milongas fast überall gibt, findet man schnell Anschluss und ist auch auf Reisen nie allein.
Ich wollte Tango schon immer ausprobieren. Ich tanze gern, bin leidenschaftlich, recht gut koordiniert und habe keine Hemmungen, neue Leute kennenzulernen. Ich dachte an den Film mit Al Pacino „Der Duft der Frauen“ (1992): mit geschlossenen Augen zu schmerzhaft melancholischer Musik über das Parkett gleiten. So ungefähr stellte ich mir das vor.
Inspiriert arbeitete ich mich in mein neues Projekt und in die Berliner Tangoszene ein. Unter anderem erfuhr ich, dass Tango 2009 zum Weltkulturerbe ernannt und die UNESCO die Musik, den Tanz und die Poesie des Tangos zum schützenswerten Kulturgut erklärte. Dies erklärt auch, warum Tango mehr als andere lateinamerikanische Tänze ist.
Endlich wurde es Mai, und es war wieder Sommer in Berlin, die perfekte Zeit für Tango. Die Anzahl und Vielfalt der heute in Berlin stattfindenden Milongas ist einzigartig. Die nächtlichen Menschenpanoramen, die sich wie eine sich ständig verändernde urbane Sozialskulptur bilden, sind faszinierend. Egal ob in Clärchens Ballhaus, im Roten Salon der Volksbühne oder bei der schönsten Open-Air-Milonga im Monbijoupark – Tango hat in der Berliner Nachtszene einen festen Platz. Selbst im legendären KitKatClub, der bekanntermaßen für mehr als nur Tanzen steht, gibt es ausschweifende Tangoabende (Tango Rouge).
Die ersten Herausforderungen beim Wunsch, Tango tanzen zu lernen, zeigten sich jedoch schnell: Zuerst musste ich einen Tanzpartner finden. Nachdem ich vergeblich alle Tangoschulen kontaktiert hatte, meldete ich mich auf einer Webseite an, bei der man für verschiedene Sportarten einen Partner finden kann – eine Art „Sport-Tinder“.
Nach der Anmeldung und den ersten Zuschriften wollte ich sofort alles hinschmeißen. Es wimmelte nur so von zweideutigen Angeboten. Für viele ist Tango eben auch eine Art Dating. Schließlich wurde ich durch einen Freund an einen anderen Anfänger vermittelt, mit dem ich in den folgenden Wochen zu den sogenannten Practicas ging, um zu üben. Dort findet man Anfänger, aber auch Fortgeschrittene, die ihre Figuren perfektionieren wollen.
Wir hatten großes Glück, Luciano de Esbornia als Lehrer empfohlen zu bekommen. Er ist einer der besten und bekanntesten Tangolehrer der Stadt. Luciano räumte als Erstes mit vielen Vorurteilen auf. Tango, sagte er, sei ein „social dance“, der auf der Straße entstand. Das ganze Theater um hochgeschlitzte, enge Kleider und High Heels entstand erst in den 60er Jahren. Vieles, was man kennt, wie den „Flip-over“, sei einfach lächerliches Showtanzen. Er erklärte uns auch, dass es im Tango keine festgelegte Schrittfolge gibt. Alles sei improvisiert. Der Mann führt, doch man ist gleichzeitig in enger Kommunikation und hält stets die Spannung zueinander.
Ich muss zugeben, dass ich es mir leichter vorgestellt hatte und war die ersten Male komplett überfordert. Schnell merkte ich, dass es nicht um das Auswendiglernen von Schrittabfolgen geht, sondern darum, eine „Technik“ zu beherrschen. Luciano erklärte, dass die Struktur im Tango einen Führenden und einen Folgenden vorsieht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass einer dominiert und der andere gehorcht. Das ist ein weiterer Mythos über den Tango.
Mein erster Besuch einer Milonga war im Monbijoupark, einer der bekanntesten Open-Air-Tanzveranstaltungen Berlins. Viele der Tänzer kamen erst zu später Stunde. Tango ist ein leidenschaftlicher, aber im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Tänzen ruhiger Tanz, wie geschaffen für heiße Nächte. Mehrere Scheinwerfer der Bar waren direkt auf die Spree gerichtet, das Flusswasser spiegelte sich an der Fassade des Bode-Museums. Bunte Lampions umrankten die Tanzfläche. Viele kamen als Paar, andere fanden ihren Partner vor Ort. Wer zuerst schnuppern wollte, bestellte sich ein Glas Wein und schaute fasziniert zu – so wie ich. Ich war überwältigt von der Mischung der Menschen und noch mehr von der physischen Transformation, die einsetzte, als die Musik zu spielen begann: Zunächst behäbig wirkende Männer glitten in fast schwebender Eleganz mit ihren wechselnden Partnerinnen über die Tanzfläche. Im Tanz lag eine fast meditative, sinnliche Ruhe. Jedes Paar war in seinem eigenen Kosmos – ganz bei sich. Mit Blickkontakt und einem kleinen Nicken bekamen die Damen eine Tanzaufforderung. Ganz schön altmodisch, dachte ich mir, aber auch stilvoll.
Ich beobachtete, wie die Paare wechselten und in der sogenannten Ronda tanzten, dem harmonischen Tanzfluss aller Paare auf der Tanzfläche. Neulinge merken schnell, dass es in der Ronda auch Verkehrsregeln zu beachten gilt. Es war wunderschön zu sehen, wie alle, die hier zusammenkamen, so unterschiedlich sie auch sein mögen – jung oder alt – geeint sind in ihrem Wunsch zu tanzen.
Der schwere Duft der Lindenblüten mischte sich mit dieser schmerzhaft schönen Musik und einem Hauch von Nostalgie, die sich auch im Dresscode einiger Tänzer widerspiegelte. Ich ahnte, dass das, was so anmutig und leicht aussah, harte Arbeit sein würde. Viele freundliche Tanzaufforderungen lehnte ich beschämt ab. Eine Milonga war für eine Anfängerin doch nicht der richtige Platz, um zu lernen. Ich entschied, erst wiederzukommen, wenn ich einigermaßen mithalten konnte.
Tango tanzen heißt, sich der Musik, dem Tanzpartner, dem Rhythmus – dem Anderssein hinzugeben. Es ist ein bisschen wie das Verlieren in einer anderen Welt, ein Wechselspiel aus Loslassen und Spannung halten. Und im Tango geht es um menschliche Begegnungen. Es geht darum, in einem Flow und Dialog mit deinem Gegenüber zu sein.
Mittlerweile habe ich neben meinen Privatstunden mit Luciano einen tollen Tanzpartner gefunden, mit dem ich zu Practicas oder Milongas gehe. Aber es gibt im Tango keinen absoluten Besitzanspruch auf einen festen Tanzpartner. Auch das kann man vom Tango fürs Leben lernen.