60. VENEDIG BIENNALE: Kunstereignis 2024 – 20. Apr bis 24. Nov

von Claudia Hornemann

Neben der Hauptveranstaltung in den Giardini und Arsenale nutzen Galerien, Privatstiftungen und Künstler:innen das Mega-Kunstevent und präsentieren Gruppen- sowie Solo-Shows in der ganzen Stadt. Avvy hat für Sie die Geschichte der Kunst Biennale und Highlights in Venedig auch abseits der Hauptpfade recherchiert.

Wenn ich in diesen Tagen auf Instagram-Stories meiner Freunde schaue, sehe ich überall Gondeln oder Wassertaxis vor der hinreissenden Kulisse der berühmten Lagunenstadt Venedig. Es ist der magische Ort, wohin in diesen Tagen die gesamte Kunstwelt, zur Kunstbiennale pilgert. Wer schon an den Preview Tagen anreist, ist entweder ein wichtiger Künstler, Kurator oder ein Sammler Schwergewicht begleitet meist von seinem Galeristen. Es ist die ultimative Nabelschau – ein Schauplatz des Besten, was die Kunst zu bieten hat aber und auch ein „Fegefeuer der Eitelkeiten“ wie es Tom Wolf beschreiben würde. Wenn sich also alle zwei Jahre Künstler, Kritiker und Kunstliebhaber in Venedig treffen, geht es nicht nur darum große Kunst zu sehen, sondern auch um an fantastischen Parties auf der Dachterrasse einem der Hotels am Canale Grande gesehen zu werden.

Ich war viele Male dort aber dieses Jahr werde ich erst im Herbst gehen, wenn sich der Hype und die Temperaturen etwas abgekühlt haben. Da habe ich dann auch schon alles gelesen was dazu geschrieben wurde und das schafft ein wenig Überblick bei mindestens 300 ausgestellten Künstlern auf den Gardinie und Arsenale, hunderten von off-site Venues, nicht eingeschlossen das Kunstpanorama der Stadt Venedig selbst. Daher mache ich, ganz im eigenen Interesse nun eine kleine Vorabrecherche und kann jedem empfehlen, der dies liest, bald seine Flüge und Hotels zu buchen. Auch hier gibt es tolle Avvy Empfehlungen als Editors pick‘s. Da Venedig also ein Gesamtweltkulturereignis ist, was man in seiner ganzen Fülle und Panorama erleben möchte, braucht man vor allem zwei Dinge – gutes Schuhwerk und Zeit. Denn zum Besuch von Venedig gehört idealerweise auch ein Besuch des Strandbads am Lidos, die Guggenheim Sammlung, ein Drink im Hotel Chipriani und viele einzigartige Kirchen. Alleine das Schlendern und sich Verlieren in den Gassen Venedigs braucht viel Zeit, weil man sich oft verläuft. Da Venedig auch eine Stadt ist, die unter der Last Touristenmassen fast zu ersticken droht, hat soeben die italiensche Regierung zum 25. April 2024 veranlasst, dass Tagestouristen eine Gebühr von 5 Euro zahlen müssen.

Die 60. Kunstbiennale Venedig geht 2024 ins 130ste Jahr und hat (mit wenigen Unterbrechungen) seit 1895 im Zweijahresrhythmus stattgefunden. Sie findet in schwierigen und politisch brisanten Zeiten statt, was auch der provokante Titel „Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere“ wiederspiegelt. Künstlerinnen und Künstler setzen sich mit den sozialen, politischen und kulturellen Themen ihrer Zeit auseinander und verarbeiten diese in ihren Werken schon immer. Dafür ist die Biennale bekannt und berühmt. Ich möchte aber erst einmal kurz zurück­­blicken auf die Anfänge.

Im Sommer 1895 öffnete die erste Venedig Biennale ihre Tore und setzte sofort neue Maßstäbe für die internationale Kunstwelt. Doch was als kulturelles Highlight geplant war, entfachte schon am Eröffnungstag einen handfesten Skandal von allergrößter Tragweite, der die Biennale berühmt machen sollte. Die Biennale wurde ins Leben gerufen, um der kulturellen und wirtschaftlichen Flaute, die Venedig seit Jahren erlebte, entgegenzuwirken. Die Idee war, eine Ausstellung zu schaffen, die alle zwei Jahre stattfinden sollte, um Kunstschaffende und -liebhaber aus der ganzen Welt anzuziehen. Diese erste Ausstellung zeigte Werke aus fast allen europäischen Ländern sowie den USA.

Aber was war der Skandal? Das Objekt der heftigsten Kontroversen war ein Gemälde des damals 35-jährigen italienischen Künstlers Giacomo Grosso. Das Werk mit dem Titel „Il supremo convegno“ (Die höchste Zusammenkunft) zeigte eine Gruppe von sechs Jugendlichen in einer expliziten und provokanten Pose, die eine satanistische Orgie darstellten und die Dargestellten waren ganz klar als Nachkommen wohlhabender norditalienischer Bürgerfamilien aus Turin zu erkennen. Schon vor der Eröffnung der Biennale waren Bilder und Beschreibungen von Grossos Gemälde in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht worden, was landesweit für Aufregung sorgte. Die explizite Darstellung und die mutmaßliche Verunglimpfung angesehener Familien durch die erkennbaren Porträts ihrer Kinder in kompromittierenden Positionen führten zu öffentlichen Debatten über die Grenzen der künstlerischen Freiheit und des guten Geschmacks. Am Eröffnungstag bildeten sich lange Schlangen vor dem Ausstellungspalazzo, und die meisten der 224.327 Besucher kamen speziell, um dieses eine Bild zu sehen. Die Reaktionen schwankten zwischen Schock und Faszination. Die Diskussionen um das Bild überschatteten fast alle anderen Ausstellungsstücke und stellten eine unerwartete Herausforderung für die Organisatoren dar, die den Massen, die dafür kamen, nicht gewachsen waren. Trotz oder vielleicht gerade wegen des Skandals wurde „Il supremo convegno“ mit großem Abstand zum Publikumsliebling der Biennale und sollte danach auf eine Welttournee gehen. Diese Pläne wurden jedoch zunichte gemacht, als das Gemälde in einem nie vollständig aufgeklärten Brand vor seiner ersten Station vernichtet wurde. Der mit dem Gemälde verbundene Skandal verhalfen der Venedig Biennale zu einer anfänglichen Berühmtheit, die sie im kulturellen Kalender Europas etablierte.

Die aktuelle Auflage der 60. Venedig Biennale in 2024, zu der über 300 Künstler eingeladen sind, ist ein Kaleidoskop der zeitgenössischen Kunstszene, auch wenn in vielen parallelen Ausstellungen auch die Kunst anderer Epochen gefeiert wird.

Jedes Mal, wenn die Venedig Biennale ihre Pforten öffnet, entbrennt ein intensives Ringen um eine der begehrtesten Auszeichnungen der Kunstwelt: den Goldenen Löwen für den besten nationalen Pavillon. Dieser Preis ist nicht nur eine hohe Anerkennung für die Künstler und Kuratoren des gewinnenden Pavillons, sondern auch ein Prestigeobjekt für die vertretenen Länder. Die Geschichte des Goldenen Löwen ist voll von dramatischen Wettstreiten, politischen Untertönen und künstlerischen Geniestreichen. Die Vergabe des Goldenen Löwen kann die Kunstszene eines Landes nachhaltig beeinflussen und ist oft mit einem spürbaren Anstieg in Kulturinvestitionen verbunden. Ein Sieg hier gilt als Bestätigung künstlerischer Exzellenz und visionärer Kuratierung und hat das Potential, die kulturelle Identität eines Landes auf dem globalen Parkett zu prägen.

Eines der denkwürdigsten Beispiele für den Einfluss des Goldenen Löwen war der Sieg des deutschen Pavillons im Jahr 2001. Gregor Schneiders beunruhigende Installation „Totes Haus u r“ wurde schnell zum Gesprächsthema der Biennale und international. Die Installation im Deutschen Pavillon, die das Innere eines Hauses auf beklemmende Weise nachbildete, war so umstritten wie faszinierend und wurde als Kommentar auf die dunklen Seiten der menschlichen Existenz interpretiert. Der Wettbewerb um den Goldenen Löwen ist auch ein Spiel der Diplomatie und Strategie. Länder investieren erheblich in ihre Pavillons, um die bestmöglichen Künstler und Kuratoren anzulocken. Die Entscheidung, wen man repräsentieren lässt, ist oft das Ergebnis intensiver Diskussionen und manchmal auch nationaler Debatten.

Die Kunstbiennale steht dieses Jahr unter dem provokativen Titel „Überall Ausländer“ und rückt Themen wie Migration, Minderheiten und den globalen Süden ins Zentrum des Interesses und zeichnet sich durch ihre ausgeprägt politische Dimension aus. Im deutschen Pavillon, die von den Künstlern Yael Bartana und Ersan Mondtag unter der kuratorischen Leitung von Çağla Ilk präsentieren sie die Ausstellung „Thresholds“, äußerlich durch große Sandhaufen abgeschirmt wurde, fanden parallel zwei beeindruckende Theatervorstellungen statt. Die intensive Akustik erinnerte an gleichzeitige Aufführungen von Mahlers und Bruckners Sinfonien – ein künstlerischer Clash, der die Zuschauer fesselte.

Adriano Pedrosa, der brasilianische Kurator der Hauptausstellung, hat das Motto bewusst gewählt. Dies reflektiert nicht nur die physische Mobilität durch Tourismus und Migration, sondern auch die soziale Mobilität und die Sichtbarkeit von Minderheiten. Die Biennale wirft auch Fragen nach der Rolle und dem Einfluss der Kunst in der heutigen globalisierten Welt auf. Während einige Künstler klassische Themen in modernen Kontexten explorieren, nutzen andere die Plattform, um auf soziale Ungerechtigkeiten und kulturelle Konflikte hinzuweisen. Die Diskussionen und die Kunstwerke dieses Jahres laden jedoch dazu ein, über die momentanen globalen Veränderungen und ihre Darstellung in der Kunst nachzudenken. Neben den zentralen Ausstellungen in den „Giardini“, wo sich die Länderpavillions präsentieren und im Areal „Arsenale“ gibt es zahlreiche Parallelveranstaltungen und Satellitenausstellungen, die die Stadt in eine lebendige Kunstlandschaft verwandeln.

Eine Reise nach Venedig sollte sich aber nicht nur auf die Highlights der Kunst-Biennale in den Giardini und Arsenale beschränken. Venedig ist ein prall gefüllter Kultur-hub, der sich kaleidoskopartig über Jahrhunderte von Kunst- und Kulturgeschichte erstreckt. Venedig, eine Stadt, die auf mehr als 100 kleinen Inseln erbaut wurde, spielt seit Jahrhunderten eine zentrale Rolle in der Kunstgeschichte. Im Laufe der Renaissance wurde Venedig zu einem der wichtigsten künstlerischen Zentren Europas. Maler wie Tizian, Tintoretto und Veronese prägten den venezianischen Stil, der sich durch leuchtende Farben und dramatische, oft emotionale Darstellungen auszeichnete. Diese Künstler beeinflussten nicht nur die Kunst ihrer Zeit, sondern setzten Standards, die in ganz Europa bewundert und imitiert wurden. Auch die Architektur Venedigs ist von großer kunsthistorischer Bedeutung. Der Markusdom mit seinen byzantinischen Mosaiken und die prächtigen Paläste entlang des Canale Grande spiegeln den Reichtum und die Macht Venedigs in seiner Blütezeit wider, ein architektonisches Juwel.

Hier ein paar der Highlights, die man bei einem Venedig Besuch in 2024 nicht verpassten sollte.

  1. Im Palazzo Grassi und in der Punta della Dogana finden zwei bemerkenwerte Ausstellungen statt. Die Collection Pinault zeigt in der Punta della Dogana Arbeiten von Pierre Huyghe und im Palazzo Grassi von Julie Mehretu.
  2. In der Galleria dell’Accademia wurde gerade die Ausstellung „Willem de Kooning e l’Italia“ eröffnet. Diese wichtige Schau läuft bis zum 15. September 2024. Die Ausstellung erforscht den Einfluss, den de Koonings zwei Aufenthalte in Italien – 1959 und 1969 – auf sein Werk hatten.
  3. Die Peggy Guggenheim Collection zeigt „Marina Apollonio: Beyond the Circle“ präsentiert die Arbeiten von Marina Apollonio und ihre dynamischen und immersiven kinetischen Installationen.
  4. Geheimtipps wie die Scoula di San Giorgio degli Schiavoni ist ein must see. Dieses weniger bekannte Juwel beherbergt einige der schönsten Fresken von Vittore Carpaccio und bietet einen tiefen Einblick in die venezianische Kunst der Renaissance, fernab der üblichen Touristenströme. Ein Besuch der kleinen Kirche darf bei keinem meiner Besuche fehlen.
  5. Oratorio dei Crociferi, ist ein kleiner, oft übersehener Raum nahe der Fondamenta Nuove. Die Oratorio beherbergt beeindruckende Gemälde von Palma il Giovane, die in einem intimen Rahmen betrachtet werden können.

Wer sich gerne intensiver mit der bewegten Geschichte der Kunstbiennale von Venedig beschäftigen will, dem möchte ich das fasziniernde Buch des Kunsthistorikers und Kurators Robert Fleck empfehlen. Es ist eine gelungene Analyse der Venedig Biennale und verwebt dabei geschickt die zahlreichen Episoden, die diese Veranstaltung geprägt haben. Die Biennale wird nicht nur als Kunstevent, sondern als ein Spiegel der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Dynamiken ihrer Zeit betrachtet. Fleck entführt uns auf eine Reise durch die Jahrzehnte, beginnend mit Gustav Klimt, der im Jahr 1910 radikal eine dunkle, ornamentreiche Halle in einen hellen, weiß gestrichenen Raum mit Oberlicht verwandelte und damit den Grundstein für das Konzept des „White Cube“ legte. Er berichtet von den frühen Herausforderungen Picassos, dessen Werke zunächst der Zensur zum Opfer fielen, und den überraschenden Misserfolgen von Künstlern wie Klee, Ernst, Dix, Grosz und Kandinsky, die 1930 sowohl bei Kritikern als auch beim Publikum durchfielen. Ein besonderes Augenmerk legt er auf die politischen Instrumentalisierungen der Biennale, wie unter Mussolini, der die Veranstaltung nutzte, um seine Vision einer Renaissance des Römischen Imperiums zu propagieren. Adolf Hitler, ein gescheiterter Künstler, der die Biennale ein Jahr nach seiner Machtergreifung besuchte, zeigte Interesse nur am deutschen Pavillon und verachtete den Rest. Das Buch hebt auch hervorragende Momente hervor, wie Peggy Guggenheims triumphale Nachkriegsausstellung, die maßgeblich zur Anerkennung der modernen Kunst beitrug. 1964 veränderte Robert Rauschenberg mit seiner bahnbrechenden Ausstellung das Gesicht der Biennale, indem er die alte Garde der Pariser Salonkünstler durch eine neue Generation von New Yorkern ersetzte. Harald Szeemanns Kuratierung der „Aperto“-Ausstellung 1980 wird als Geburtsstunde der Postmoderne gefeiert.

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